von Charles Rojzman

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich unsere Gesellschaft in einer schwerwiegenden Krise befindet: in einer Sinnkrise, in einer Autoritätskrise, in einer politischen und wirtschaftlichen Krise und in einer Krise der familiären und sozialen Beziehungen. Darüber hinaus verstärken die derzeitigen Fluchtbewegungen und die damit verbundenen Konflikte überall in Europa die Ängste der Menschen – bisweilen bis hin zum Hass. Diese Radikalisierung erfasst  mehr und mehr nicht nur  junge Männer und Frauen, die auf der Suche nach Sinn und Sicherheit im Leben sind. Auch auf der Gegenseite schüren diese Radikalisierung Ängste und Wut. Die Folge ist der Rückzug vieler in die eigene vertraute ethnische, religiöse oder ideologische Zugehörigkeitsgruppe.

Dieser Abbruch der Beziehungen und die wachsende Konfrontation gefährden das friedliche Zusammenleben in allen öffentlichen und privaten Bereichen und somit den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wie können wir diese Entwicklung verhindern?

In meinem 1998 erschienenes Buch „Savoir vivre ensemble“ (auf Deutsch: Wie können wir zusammenleben?) berichte ich von meinen ersten Projekten in den Vororten von Paris – zunächst in Mantes-la-Jolie, dann in Seine-Saint-Denis und schließlich  in ganz Frankreich. Dem folgten Projekte in Ländern wie Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien, dem Mittleren Osten, Zentralamerika und selbst den Vereinigten Staaten. In diesem Buch erkläre ich ausführlich meine Methode, die ich „Thérapie Sociale“ genannt habe, da es sich tatsächlich um einen therapeutischen Ansatz handelt, dessen Ziel es ist, Gewalt in Konflikt umzuwandeln und gemeinsam Kooperationsformen zu entwickeln.

Die Thérapie Sociale – eine Art Mediation

Welche Kompetenzen benötigen wir, um das Miteinander und Konflikte zu meistern? Welche Werkzeuge brauchen wir dazu? Welche Fähigkeiten müssen wir hierfür entwickeln und erwerben?

Das wichtigste Werkzeug und die grundlegendste Kompetenz hierfür ist zunächst einmal unser Vermögen, anderen Menschen offen und ehrlich zu begegnen. Dies erscheint auf den ersten Blick banal, denn wir gehen selbstredend davon aus,  dass die meisten unter uns –  oder zumindest all diejenigen, die versuchen, Gewaltlosigkeit und Mediation in ihrem Alltag zu leben – bereits dazu fähig sind. Aber das ist leider eine Illusion, die auf unserem unverwüstlichen Glauben an die Selbsterfüllung unserer guten Absichten basiert. Das Gute und die Gewaltlosigkeit zu wollen, genügt jedoch nicht, weder um sie in sich selbst zu verankern, noch um sie weiterzugeben. Um das zu erreichen, bedarf es einer großen sowohl individuellen als auch kollektiven Kraftanstrengung.

Selbst gewaltlos zu leben und ein Vermittler von Gewaltlosigkeit zu werden, bedeutet zunächst, die eigene Gewalt und die eigenen Schwierigkeiten, mit anderen in Beziehung zu treten, zu betrachten. Um die eigene Fähigkeit, auf andere zuzugehen, zu entwickeln, muss man sich zunächst über sich selbst klar werden: über die eigenen inneren Hemmnisse für ein gedeihliches Zusammenleben und die Zusammenarbeit mit anderen, über die eigene Furcht, die eigenen Vorurteile sowie die eigene Gewohnheit, sich zu verschließen, nicht auf andere zugehen zu können und bevorzugt deren Nähe zu suchen, die einem ähneln und somit weniger Furcht einflößen. Ohne diese Selbstreflektion und ohne Bearbeitung der eigenen Barrieren und Vorurteile ist es unmöglich, anderen dabei zu helfen, Beziehungen und Konflikte zu meistern.

All diejenigen, die beruflich mit Radikalisierungsthematiken zu tun haben, benötigen eine Ausbildung in Konfliktmoderation und somit einen intensiven Blick auf sich selbst. Ausgebildeten Mediatoren werden heute ständig mit Emotionen konfrontiert – mit denen der anderen, aber auch mit den eigenen. Dazu gehören Furcht, Wut, Enttäuschung und Verzweiflung.  Und dabei darf nicht übersehen werden, dass wir in den Augen vieler Menschen in einer für sie unerträglich instabilen und chaotischen Welt leben, in der nichts mehr offensichtlich und nichts mehr sicher ist.
Daher ist heute mehr denn je eine Ausbildung notwendig, die nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf die Emotionen hin ausgerichtet ist. Das öffentliche Leben hat sich stark verändert und die Beziehungen sind komplizierter geworden. Durch die Migration stoßen verschiedene Kulturen auf engstem Raum aufeinander. Diejenigen, die es sich leisten können – zumeist gutsituierte Einheimische –, ziehen in andere Wohngegenden; die Folge ist eine zunehmende Ghettoisierung, die die erwünschte und vor allem notwendige Integration verhindert.

Für die Überwindung von Leiden und Problemen  ist es daher unabdingbar, sich auf die veränderten Lebensbedingungen und Verhaltensweisen der Menschen einzustellen und zunächst einmal den Umgang mit der vollkommenen Redefreiheit zu erlernen. Dies ist die Grundvoraussetzung für jede  gelingende Kooperation.

Weshalb eine Thérapie Sociale?

Der therapeutische Aspekt unserer Arbeit erschreckt bisweilen die Auftraggeber und Teilnehmer meiner Aktionen. Ich spreche daher eigentlich  lieber von einem „gemeinsamen Projekt“, von „Kooperation“, von „Angeboten“. Dennoch ist „Therapie“ sehr wohl die Basis dieser Arbeit. Der Einzelne muss etwas heilen, um das Gemeinschaftsleben zu verbessern. Wir haben uns daran gewöhnt, alle Disziplinen – Soziologie, Psychologie, Philosophie, Politik, Anthropologie, Ethnologie – isoliert voneinander zu betrachten. Erfreulicherweise zeichnet sich neuerdings aber nun doch eine Tendenz zur Interdisziplinarität, ja sogar Transdisziplinarität ab und man wird sich immer mehr bewusst, dass der politische Alltag von manipulierbaren Emotionen wie Furcht und Wut gekennzeichnet ist. Die großen Meinungsmanipulatoren sind und waren sich dessen übrigens schon immer sehr wohl bewusst! Sie benutzen psychologische Methoden, um die Masse zu beeinflussen.

Demzufolge ist heute auch keine psychotherapeutische Arbeit mehr vorstellbar, die völlig unabhängig vom sozialen und politischen Umfeld agiert. Dass ich diese Arbeit als „Thérapie Sociale“ bezeichne, liegt also daran, dass ich davon überzeugt bin, dass man das Individuum, seine Emotionen und seine Ängste stets im Zusammenhang mit seinen Lebensbedingungen betrachten, aber auch die Entwicklung der Gesellschaft und die Widersprüchlichkeiten des Gemeinschaftslebens berücksichtigen muss.

Die Akzeptanz  von  Schattenseiten und Schwächen

Erst wenn wir unsere unbewussten Motive verstehen, können wir mit der Thérapie Sociale richtig arbeiten. Wir müssen unsere dunklen Seite erkennen und annehmen, um sozusagen als „verletzte Heiler“ den spezifischen therapeutischen Prozess garantieren zu können. Aber nicht nur Mediatoren müssen sich ihrer vergegenwärtigen, genau genommen gilt dies für alle Berufsgruppen, die mit sozialen Beziehungen, Erziehung und Hilfe zu tun haben, also auch für Unterrichtende, Sozialpädagogen, Polizisten, Pflegende etc.

Aber warum?

Es ist schwierig, anderen zu helfen, sie zu begleiten, zu beschützen oder zu erziehen, wenn man keine verantwortungsbewusste und autonome Persönlichkeit ist. Autonomie, Verantwortung und die Fähigkeit, ohne Gewalt zu helfen, bedeutet jedoch, das zu akzeptieren, was wir im Ganzen sind: jemand, der zwar „gut“ ist, aber auch ein Mensch, der von seinen Leidenschaften und mitunter auch von seinen eigenen Fehlern und Torheiten mitgerissen wird.

Diese Schattenseiten sind die Schwäche eines jeden Menschen und weisen uns unsere Grenzen auf. Aber diese dunklen Schattenseiten existieren auch auf anderer Ebene, beispielsweise auf der Ebene von Institutionen oder einer kranken und oft allzu schwachen Demokratie.

Das Erkennen, das Verstehen und die Akzeptanz dieser Schattenseiten führen dazu, dass uns die individuelle Verantwortung jedes Einzelnen sowie jeder Gruppe und jeder Institution, die er angehört, bewusst wird. Ich bin nicht das Opfer der anderen, zumindest nicht immer! Vielmehr sind wir das, was wir ungerne sein möchten, nämlich ein Opfer unserer eigenen Geschichte – unserer eigenen Sozialisierung und Familiengeschichte und oft auch Opfer unserer eigenen Fehler. Wir glauben, dass wir Opfer sind, befinden uns aber vielmehr in einem Prozess der Selbst-Viktimisierung: Wir schreiben uns diese Rolle selbst zu und verharren in einer Opferhaltung.

Um in der Lage zu sein, sich anderen gegenüber „verantwortlich“ zu fühlen und ohne Gewalt konfliktfähig zu sein, muss man Selbstvertrauen besitzen. Vertrauen ist hierfür Schlüssel und zwingende Voraussetzung zugleich. Dieses Vertrauen muss auf mehreren Ebenen vorhanden sein: zwischen dem Moderator und den Teilnehmern, zwischen den Teilnehmern, in den Prozess und jeder in sich selbst. Wir müssen also ein Klima des Vertrauens schaffen. Hinsichtlich des Vertrauens in sich selbst sind jedoch nicht alle Menschen gleich. Manche sind von Natur aus sehr selbstsicher, entspannt und haben wenig Komplexe. Andere hingegen haben absolut kein Selbstvertrauen – sie haben weder Vertrauen in das, was sie denken, noch ins das, was sie fühlen, und wagen es aus Angst vor dem Urteil und der Reaktion anderer nicht, das auszusprechen, was sie erlebt haben und empfinden. Die Thérapie Sociale heilt diese Menschen natürlich nicht innerhalb von zwei Tagen, aber im Verlauf eines längeren Prozesses erlangen sie zunehmend ein Vertrauen in sich selbst, das es ihnen erlaubt, sich auf die gemeinsame Arbeit einzulassen. Am Ende des Gesamtprozesses sind sie nicht unbedingt verwandelt und ihres Selbst vollkommen und dauerhaft sicher geworden, aber sie haben gelernt, dass sie in diesem geschützten Rahmen ihrer Selbst sicher sein konnten. Und diese positive Selbsterfahrung wird sie dazu ermutigen, es erneut erleben zu wollen. Verantwortung erfordert Selbstvertrauen, um zum Vorschein zu kommen, aber auch, um dann angenommen und gelebt zu werden.

Ich begleite üblicherweise Gruppen, die sich aus Menschen zusammensetzen, die ein gemeinsames, nicht persönliches Problem lösen möchten. Ich gebe ihnen die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen über ihre eigenen Schattenseiten, ihre eigene Gewalt sprechen zu können. Auf den ersten Blick erscheint es uns schwierig, fast indiskutabel, anderen die negativen Seiten  unserer Persönlichkeit zu offenbaren und zuzugeben, was wir Schlechtes getan haben. Ich habe jedoch festgestellt, dass es uns sehr wohl gelingen kann, über unser inneres Unvermögen hinauszuwachsen, wenn wir über unsere dunklen Seiten, über unsere „inneren Monster“ oder über das, was wir anderen angetan haben, sprechen. Und wenn das in einer solchen Gruppe gelingt, gelingt es ihr auch, das gemeinsame Problem zu lösen.

Was passiert in einem solchen Augenblick?

Wenn man verstecken will, wer man ist, indem man versucht, ein günstiges Bild von sich selbst, seiner Funktion, seiner Institution oder seinem Stadtteil zu zeichnen, sagt man nicht oder nur selten die Wahrheit. Man spricht eine Art Betonsprache und verschwindet somit hinter einer Maske. Jedes Milieu hat seine eigene spezifische Betonsprache, die mit bestimmten stereotypischen Aussagen arbeitet. Damit werden „die Anderen“ ins Unrecht gesetzt, Verantwortung wird abgeschoben und es wird versteckt, wer und was man in Wirklichkeit ist. In einer Gruppe aus verschiedenen Menschen, die gemeinsam etwas erreichen möchten, kann jedoch ein Klima des Vertrauens geschaffen werden, in dem es nicht notwendig ist, so zu handeln. Wenn es den Gruppenmitgliedern gelingt, erlittenes Leid auszudrücken, ist es ihnen auch möglich, Züge ihrer Persönlichkeit zu offenbaren, die sie üblicherweise zu verstecken versuchen. Diese Aufdeckung der eigenen Schattenseiten hat zwei Vorteile. Der erste ist, dass ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt wird, sehr viel mehr zumindest, als wenn die oben erwähnten stereotypischen Verteidigungsreden gehalten werden. Der zweite ist, dass echte Informationen weitergegeben werden. Dieses Teilen von Informationen über sich selbst wird zu einem deutlich besseren Verstehen der Gesamtsituationen führen, als wenn jeder über den bzw. die anderen spricht, den bzw. die er nicht wirklich kennt. Diejenigen, die dazu neigen, sich in extremistischen und feindlichen Positionen zu radikalisieren, brauchen diese Begegnung, um ihre Vorurteile, ihre Angst und ihre Wut loszuwerden.

Die Institutionen ändern

Es geht also darum, eine emotionale Umgebung zu schaffen, die möglichst wenig Leiden verursacht. Dem Kleinkind erlaubt die Befriedigung seiner primären Bedürfnisse nach Liebe und Sicherheit, eine gesunde Beziehung mit der Welt und anderen Menschen herzustellen. Ohne Liebe ist es in seiner ganzen Existenz und Identität bedroht, es wird das Opfer seiner inneren Dämonen bleiben und von Furcht und Angst fortgerissen werden; manchmal wird es sogar endgültig in Hoffnungslosigkeit und psychischen Erkrankungen versinken. Aber auch ein Erwachsener hat die Sehnsucht nach einer Umgebung, die ihm die Befriedigung seines Bedürfnisses nach Bindung, Anerkennung und Sicherheit bietet. Ein günstiges Umfeld – ihm wohlgesonnene Menschen, stabile Freundschaften, gute Lehrer und Erzieher, humane Institutionen, ein gutes politisches Klima – kann die Verletzungen der Kindheit heilen, ein negatives hingegen kann sie verschlimmern. So können beispielsweise auch manche politischen Systeme Ursprung eines kollektiven Wahns sein, der einzelne Gruppen oder manchmal sogar ein ganzes Volk in den Hass, die Destruktivität und die Barbarei treibt.

Die Thérapie Sociale, die ich nun bereits seit vielen Jahren praktiziere, hat zum Ziel, diese heilende Umgebung in einer Krisensituation wieder herzustellen. Die ersten Gruppen, in denen mit der Thérapie Sociale gearbeitet wurde, wurden daher nicht zufällig  in den französischen Vorstädten und anderen Regionen der Welt gegründet, in denen Gewalt zum Alltag gehört, und das einzige konkrete Ziel dabei ist es dabei, ein Umfeld zu schaffen und zu fördern, das so wenig wie möglich krank macht.

Radikalisierung bedeutet, in zunehmend krankmachender und destruktiver Beziehung zu anderen zu leben. Jedes Umfeld kann letztendlich krank machen, aber wir können durchaus versuchen, dies zu überwinden und somit die Humanisierung des Menschen vorantreiben.

Um also voranzukommen, um in einer bewussteren, weniger kranken und krankmachenden Gesellschaft demokratischer zu leben und fähig zu sein, Schwierigkeiten zu lösen, muss man sowohl den Einzelnen als auch sein Umfeld, das heißt die Strukturen und vor allem die Institutionen verändern. Der Wandel der Institutionen lässt sich jedoch nur durch das Handeln derjenigen herbeiführen, die in ihnen tätig sind. Man wird daher nichts verändern, wenn man nicht auf beiden Ebenen agiert.

Und damit sind wir schon bei einer großen Schwierigkeit und Herausforderung: das nachhaltige Engagement der ranghöchsten  Verantwortlichen einer Institution für eine Intervention von relativ langer Dauer zu gewinnen. Diese Verantwortlichen meinen oft, sie trügen keine besondere Verantwortung für vorhandene Missstände. Sie denken also genauso wie diejenigen an der Basis, die sich als nicht verantwortliche Opfer fühlen, anstatt ihren Teil der Verantwortung anzuerkennen und zu übernehmen.

Glücklicherweise  habe ich bei meiner Arbeit mit der Thérapie Sociale durchaus Ausnahmen angetroffen, aber sie sind leider noch immer selten. Folglich kann der Wandel der Institutionen leider auch nur Schritt für Schritt vorangebracht werden. Es wäre wünschenswert, dass diese Fähigkeit zur Selbstreflexion, die Erkenntnis der eigenen Verantwortung, endlich Teil der Ausbildung von höheren Verwaltungsbeamten wird. Ich arbeite sehr intensiv daran, Verwaltung und Politik hierfür zu sensibilisieren.

Die unwahrscheinlichen Begegnungen

Um dies in meinen Arbeitsgruppen zu erreichen, sorge ich für unwahrscheinliche und schwierige Begegnungen. Ich bitte meine Auftraggeber immer, mir Personen zu schicken, die wenig gemeinsame, ja vielmehr sogar deutlich unterschiedliche Ansichten haben, die allergrößten gegeneinander Groll hegen und diesen auch zum Ausdruck bringen. Es ist jedoch nicht so, dass ich darauf bestehe, nur aggressive Menschen zu bekommen, die die Idee der Kooperation von vorherein hartnäckig ablehnen, denn natürlich wäre ich glücklich, wenn ich nur Gruppen aus Menschen hätte, die sich ohnehin schon um das Gemeinwohl kümmern und Begegnung suchen. Aber so ist die Wirklichkeit nun einmal leider nicht. Solche Personen sind nicht so zahlreich, wie wir vielleicht denken oder hoffen. Diese bräuchten mich übrigens auch nicht. Es wäre auch ein Irrweg, nur mit ihnen zu arbeiten, denn sie bilden niemals die Gesamtheit der Problemlagen ab, die man kennen muss, um Lösungen zu finden. Ich heiße in meinen Gruppen daher alle an einem Konflikt beteiligten Akteure willkommen, in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit, auch wenn sich manche unter ihnen nur mit Gewalt auszudrücken vermögen, denn das, was sie sagen, ist Teil der Realität und nur alle zusammen können auch alle notwendigen relevanten Informationen zusammentragen. Ohne alle diese Information (und „Informationen“  sind nicht nur Fakten, sondern auch Gefühle, Emotionen usw.) dürfen wir nicht glauben,  eine Situationen wirklich zu verstehen.

Grundsätzlich ist jeder Teil der Bevölkerung zu kooperativer Zusammenarbeit fähig. Oft werden Polizisten oder junge Migranten wegen ihrer angeblichen Gewalttätigkeit stigmatisiert und für eine solche Kooperation als ungeeignet betrachtet, während viele Menschen glauben, dass beispielsweise Lehrer vernünftige und kompetente Leute wären, die aufgrund ihrer Ausbildung für  Zusammenarbeit bestens geeignet seien. Doch das ist natürlich falsch.  Intelligenz ist nicht nur Lehrern vorbehalten. Ich habe festgestellt, dass es möglich ist, mit allen Zielgruppen zu arbeiten, vorausgesetzt, dass es vorher gelingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, und allen die gemeinsam gesetzten Ziele klar sind. Erstaunlicherweise ist es übrigens vielmehr so, dass es manchmal sogar leichter ist, mit Menschen zu arbeiten, die es gewohnt sind, sich mit Brutalität und großer Offenheit, die sich beim Sprechen also keine Umstände machen und sich daher sehr unmittelbar und deutlich ausdrücken, als mit Menschen, die sprachgewandt sind und eben oft auch beherrscht. Denn diese Sprachgewandtheit und Selbstbeherrschung erlauben es ihnen, vor sich und anderen negative Gefühle wie Zorn, Traurigkeit oder Verzweiflung zu verbergen. Es gibt Milieus, in denen man sich seit langem nur noch in Phrasen ausdrückt. Dies gilt ganz besonders für Politiker, für viele Verwaltungsmitarbeiter, aber auch für marginale Milieus wie beispielsweise die der gewaltfreien Pazifisten oder derjenigen, die nach Spiritualität suchen.

Eine mögliche und notwendige Utopie?

Unsere Zeit muss ihre Werte neu definieren und neue Perspektiven entdecken. Sie muss möglichst vielen die Möglichkeit geben, sich auszudrücken, anderen zu begegnen und an sich selbst zu glauben. Sobald Menschen dies ermöglicht wird, ab dem Moment also, in dem Selbstliebe und Selbstvertrauen gestärkt werden, erscheint das Leben nicht mehr leer und hoffnungslos. Die Einzelnen wagen Neues und erleben den Kontakt zueinander als Inspiration, nicht als Einschränkung und Aggression.  Natürlich mag  das alles utopisch klingen, aber ist es nicht gerade eine neue Utopie, die wir heute wieder brauchen? Schließlich muss betont  werden, dass diese ganze Arbeit des sich Ausdrückens, des Wortergreifens, der Begegnung mit anderen und der durch Kreativität und Erfindungsreichtum in Konstruktivität umgewandelten Konflikte sehr spezifische Methoden und Werkzeuge erfordert, die wir in langen Prozessen entwickelt haben. Denn es reicht ganz offensichtlich nicht aus, einfach nur Gruppen zu gründen und Begegnung zu ermöglichen. Es ist tatsächlich eine soziale Therapie notwendig, um jene individuellen und kollektiven Hindernisse zu überwinden, die einem kooperativen Zusammenleben im Weg stehen.

Weiterführende Literatur:

  • Charles Rojzman, La peur, la haine et la démocratie, Desclée de Brouwer, coll. « Provocation », Paris 1999 (1. Aufl. 1992) (ISBN 978-2220045092) (dt.: Der Hass, die Angst und die Demokratie: Einführung in eine Sozialtherapie des Rassismus, AG SPAK, München 1997 [ISBN 978-3930830053]).
  • Charles Rojzman, Sortir de la violence par le conflit. Une thérapie sociale pour apprendre à vivre ensemble, La Découverte, Paris 2008 (ISBN 978-2707151100).
  • Charles Rojzman, Bien vivre avec les autres. Une nouvelle approche : la Thérapie sociale, Larousse, coll. « L’univers psychologique », Paris 2009 (ISBN 978-2035836625).
  • Charles Rojzman, Violences dans la République, l’urgence d’une réconciliation, La Découverte, coll. « Hors collection Social », Paris 2015 (ISBN 978-2707186713).
  • Charles Rojzman, Vers les guerres civiles. Prévenir la haine, Lemieux éditeur, Paris 2017 (ISBN 978-2373440843).
  • Charles Rojzman, Igor und Nicole Rothenbühler: La Thérapie Sociale, Chronique sociale, coll. « Comprendre la société », Lyon 2015 (ISBN 978-2367170473).

Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen Beitrags in perspektive mediation 3, 2018, 146150. Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, diesen Artikel in dieser Form hier einzustellen.