Die Erstaufnahme-Unterkünfte für Geflüchtete werden wieder leerer, die Besuche hochrangiger Politiker in sächsischen Kleinstädten weniger und über Pegida unterhält man sich derzeit auch nicht mehr so oft. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit zur Zeit öfter nach außen: auf das mögliche Auseinanderbrechen der EU, den aggressiven neuen Präsidenten der USA und die verfahrene weltkriegsähnliche Situation in Syrien.
Beides sind zwei Seiten desselben. Die Probleme in den Stadtteilen gehen genauso weiter, wie die auf dem ganzen Globus, auf dem so gut wie nichts mehr passiert, ohne dass es uns alle angehen würde. Während manche das Gefühl haben mögen, Deutschland und Europa hätten die Probleme der Massenmigration gelöst, indem neue Zäune und Mauern gebaut wurden, beschreibt Anja Reschke treffend, dass das, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, „erst der Anfang“ war.
In gewisser Weise könnte man auch sagen, es ist der Anfang vom Ende. Ich meine damit aber nicht das Ende des Abendlandes, sondern das Ende einer Geschichte. Charles Eisenstein beschreibt diese Geschichte als eine, die wir Menschen mehr oder weniger bewusst über uns selbst erzählen und die aus Erklärungsversuchen darüber besteht, wer wir sind, warum wir hier sind und was gut und richtig ist. Die derzeitige Geschichte beruht auf Idealen, wie jenem des Rechthabens, des sich gegen andere Durchsetzens und der Abgrenzung gegenüber dem Bösen, Schlechten oder Unwerten.
„Dieses Narrativ, die Rassisten seien schuld [oder die Ausländer, die Politiker oder die Medien, …] schafft eine klare Trennlinie zwischen den Guten (uns) und den Bösen (den anderen), aber es wird der Wahrheit nicht gerecht.“¹
Damit wir als Menschheit in den aktuellen Krisen bestehen können, müssen wir diese Geschichte über uns selbst langsam ablegen. Wir müssen neue Geschichten erzählen, in denen wir anfangen zu verstehen, dass die Verantwortung für unsere Situation weder „bei denen“ liegt, noch dass alles besser wird, wenn wir „denen“ nur die Möglichkeit nehmen, sich zu äußern oder einzubringen. Wir müssen neue Geschichten finden, in denen wir die Kraft der Empathie kennen lernen und entdecken, dass niemand recht hat, sondern wir nur gemeinsam die Wahrheit zusammentragen können.
„Politisch kann man Empathie mit Solidarität gleichsetzen, die aus der Einsicht erwächst, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. In welchem Boot? Für die Anfänger: Wir sitzen zusammen im Boot der Unsicherheit. […] Wir verlassen eine alte Geschichte, die uns unsere Welt und unseren Platz darin erklärt hat. Manche mögen immer verzweifelter daran festhalten, je mehr sie zerfällt und vielleicht hoffen, dass Donald Trump [oder die AfD oder das Ideal des Antirassismus] sie wiederherstellt, aber ihr Retter hat nicht die Macht, die Toten zurück zu bringen.“
Wir alle sitzen im gleichen Boot: Menschen auf der Flucht Trump, Pegida, du und ich: Wir alle müssen anerkennen, dass die alten Geschichten über die Welt nicht mehr funktionieren und uns nicht retten werden. Wenn wir nicht untergehen wollen und keine blinden Ideologen sein wollen, müssen wir uns in die Unsicherheit hineinbegeben, dass wir nur zusammen einen neuen Blick auf die Welt schaffen und angemessene Lösungen entwickeln können.
„Die alte Ordnung in jetzt offiziell in Auflösung begriffen, was immer stärker spürbar wird. Das stellt uns zugleich vor gigantische Möglichkeiten und ungeheure Gefahren, denn wenn die Normalität auseinanderbricht […] wird die Umsetzung neuer Ideen möglich. […] Wenn Hass oder Angst die Kräfte sind, die diese neuen Ideen zum Leben erwecken, können alle möglichen faschistischen oder totalitären Alpträume wahr werden.“
Genauso können aber auch Träume einer verbundeneren, liebevolleren Welt wachsen, wenn die alten Geschichten des Gegeneinanders sterben.
Wenn die alten Geschichten sterben
„Wir betreten einen Raum zwischen den Geschichten. Erst kommen und gehen verschiedene rückwärtsgewandte Versionen einer neuen Geschichte, dann treten wir in eine Phase ein, in der wir wirklich nicht wissen, was zu tun ist, und dann wird sich eine authentische nächste Geschichte abzeichnen. […] Ich sehe ihre Umrisse in solchen Ansätzen, die auf Empathie gründen und auf dem Ergebnis der mitfühlenden Frage: „Wie fühlt es sich an, Du zu sein?““
Diese und ähnliche Fragen möchten wir auch in den Dialogen von gesprächsbereit stellen. Es geht darum, anderen Menschen zu begegnen und dabei die eigenen Masken von Meinung und Ideologie abzulegen. Wir dürfen immer wieder erleben, wie es Menschen, die sich darauf einlassen, auch gelingt, hinter die Masken ihrer Gegenüber zu schauen und Empathie zu entwickeln. Die Methodik unserer Dialoge beruht darauf, dass wir uns gegenseitig erklären, was wir erlebt haben, was uns wichtig ist, woran wir leiden und was wir uns wünschen. So können wir aufhören gegeneinander zu argumentieren oder uns in moralische Schubladen zu stecken.
„Und selbst wenn sich die Person, der Sie gegenüberstehen, tatsächlich rassistisch oder intolerant verhält, fragen Sie: „Ist dieser Menschen wirklich so?“ Fragen Sie sich, welches Zusammentreffen von Umständen – sozialen, wirtschaftlichen und biographischen – diesen Menschen so weit gebracht haben, dass er sich jetzt so verhält. Dann wissen Sie vielleicht immer noch nicht, wie sie mit diesem Menschen auskommen, aber zumindest werden Sie nicht automatisch auf Konfrontationskurs mit ihm gehen.
Die Lösungsansätze, die jemand verfolgt entstammen immer seinem begrenzten Verständnis darüber, wie die Welt funktioniert und welche Möglichkeiten es in ihr gibt. Die derzeitig diskutierten politischen und sozialen Lösungsansätze entstammen zum größten Teil einer Zeit, in der die Probleme weniger vernetzt waren. Heute müssen wir neue Ansätze finden – und das geht nur gemeinsam. Für Gegeneinander ist es zu spät. Und ebenso dafür, andere wegen ihrer bisherigen Ansätze auszugrenzen.
„Rassismus und Frauenfeindlichkeit sind verheerend real in diesem Land, aber wenn man Borniertheit und Sexismus dafür verantwortlich macht, dass die Wähler das Establishment abgelehnt haben, stellt man ihr tief empfundenes Gefühl betrogen worden zu sein und entfremdet zu leben in Abrede.“
Dialog? Mit wem und in welchem Rahmen?
Das Kulturbüro Sachsen hat im vergangenen September eine Handreichung erstellt, die versucht, neue Antworten auf diese Frage zu finden. Darin plädiert sie vor allem dafür, Dialogformate nicht mehr im Stile eines Gegeneinander-Argumentierens zu gestalten und aufzuhören, Menschen Meinungspodien vor hunderten Zuhörenden zu geben. Stattdessen sollten Teilnehmende eines Dialogs sich auf persönlicher Ebene zu begegnen und sich so respektvoller und menschlicher auszutauschen.
Ein weiterer Grundsatz, der vorgestellt wird, ist der Austausch auf dem Grundsatz einer Menschenrechtsorientierung. Sollten Menschen anderen die Menschenrechte absprechen, sollen sie von Veranstaltungen verwiesen werden. Dieser Grundsatz ist verständlich, weil es unglaublich schwer sein kann, mit Menschen zu sprechen, die hasserfüllte Lösungsansätze mit sich herumtragen. Aber er fußt auch auf der alten Geschichte der Abgrenzung und des Recht-Habens.
„Wir hassen, was wir fürchten, und wir fürchten, was wir nicht kennen. Also hören wir doch damit auf, unsere Gegner zu dämonisieren und dadurch den Blick auf den Menschen dahinter zu verstellen. [… Denn das moralische Urteil] verschleiert eine wichtige Wurzel von Rassismus: Wut, die sich statt gegen ein unterdrückendes System […] gegen andere Opfer dieses Systems richtet.“
In der heutigen Phase der Unsicherheit, in der niemand beanspruchen kann, „die richtige“ oder „die beste Lösung“ zu haben, müssen wir uns erstmal dazu aufmachen, die Ursachen der Probleme auszumachen. Dafür müssen auch zulassen, dass alle von ihren Problemen erzählen können. Und dafür müssen wir hinter ihre Lösungsansätze schauen und den Menschen kennen lernen.
„Wir leben in einer Zivilisation, die beinahe uns alle einer innigen Gemeinschaft, einer tiefen Verbindung zur Natur, bedingungsloser Liebe, der Freiheit das Königreich der Kindheit zu erforschen und so vieler Dinge mehr beraubt hat.“
Diese Teile des Lebens können wir nicht zurückgewinnen, indem wir uns von anderen abgrenzen oder ihnen die Schuld geben, sondern nur indem wir uns zusammentun und eine neue Geschichte schreiben, in der all das wieder eine Rolle spielt. Und eine Rolle spielen kann es nur, wenn wir es in unser heutiges Handeln einbeziehen und diese Ideale nicht auf später „nach der Revolution“ verschieben. Wir müssen also jetzt schon anderen ein Vorvertrauen entgegen bringen, um neues Vertrauen zu erzeugen. Ein Freund Charles Eisensteins, schlägt vor, im Umgang mit Menschen, die agressive Lösungsansätze vor sich hertragen, die Botschaft zu äußern „Bruder, deine Seele ist zu schön um das hier zu tun.“
„Wenn wir unerschütterlich in diesem Wissen dem Hass fest in die Augen schauen können, haben wir Zugriff auf unerschöpfliche Werkzeuge der kreativen Auseinandersetzung und können die Hassenden unwiderstehlich einladen, jene Schönheit auszuleben, die in ihnen schlummert.“
¹Zitate mit leichten Kontextanpassungen nach: charleseisenstein.net