Ein Erfahrungsbericht über Gelingen und Scheitern von Dialog in Dresden und ein Interview mit Charles Rojzman, Begründer der „Therapie Sociale“

von Anne Wiebelitz

Um die Weihnachtszeit hatte ich mal wieder eines von den Gesprächen mit einem Verwandten, die ich in den letzten Jahren immer öfter habe. Es beginnt beim Wetter und wendet sich über kurz oder lang der Flüchtlingspolitik zu. Schnell wird aus nettem Geplauder eine hitzige Diskussionen. Hier platzt die Bombe innerhalb von wenigen Minuten. Es folgt eine erhitzte Diskussionen, in der ich mich durch mein Gegenüber immer mehr missverstanden fühle, selbst ebenfalls angreife, urteile, unterbreche und einer von uns irgendwann genervt das Gespräch abbricht oder (auch nicht viel besser:) ablenkt auf ein weniger polarisierendes und emotionales Thema.
Interessant dabei ist: nach und nach beginne ich diese Gespräche (und die logische Auseinandersetzung) mit den Andersdenkenden zu meiden. Zu einigen breche ich sogar den Kontakt ab, weil ich am Sinn jeglichen Austausches mit ihnen zweifle.

Für Charles Rojzman ist das Gewalt. Charles ist Mitte 70 und hat viele Jahre als Therapeut gearbeitet. Für ihn und die von ihm entwickelte Methode der „Therapie Sociale“, auf deutsch mit Gesellschaftstherapie übersetzbar, ist Gewalt mehr als nur körperliche Verletzung: Ich übe Gewalt auch aus, wenn ich jemanden verachte, auf ihn herabschaue oder demütige, wenn ich jemanden im übertragenen Sinne verlasse, also sie oder er mir egal wird, und indem ich jemanden beschuldige oder mich selbst in die Opferhaltung begebe („alles was in mir schlecht ist, kommt von dir!“). Genau diese Gewalt verhindert, dass wir Konflikte austragen, die dringend ausgetragen werden müssen: Über Rassismus, über Flüchtlingspolitik, über unsere Verantwortung in diesen Zeiten der sozialen und ökologischen Krisen, …

Als Jude in Frankreich unter der Okkupation der Nazis geboren, setzte sich Charles in seinem Leben viel mit Rassismus auseinander. Irgendwann stellte er fest: „Die Arbeit über Rassismus bestand vor allem aus Moralisierung: Rassismus ist schlecht und Leute, die rassistische Dinge sagen, sind dumm und manipuliert. Ich habe mich gefragt: warum gibt es keine Arbeit wie Therapie – wo die Menschen über ihre wahren Leiden sprechen können? So habe ich angefangen. In meinem ersten Workshop in einem Krankenhaus brachte das einiges zutage: Zum Beispiel, dass die Menschen, die rassistisch sprechen, auch Leiden haben, und das Ausländer auch rassistisch sein können. Und es gab in dem Krankenhaus nicht nur Rassismus, sondern auch Klassismus, was sich z.B. in gewaltiger Verachtung gegen die Putzfrauen äußerte.“
Charles wollte die Methode weiterentwickeln und fand in Mantes-la-Jolie einen Bürgermeister, der ihn unterstützte. Mantes-la-Jolie war einmal das größte Sozialwohnungsviertel Europas unweit von Paris. Die meisten Franzosen verbinden mit dieser Stadt Drogen, Hoffnungslosigkeit, Gewalt, mangelnde Perspektiven und Plattenbauten bis in den Himmel. Dort begann Charles Arbeit über die Gewalt in den französischen Banlieues: Er schaffte Räume, in denen sich kriminell gewordene Jugendliche, PolizistInnen, PolitikerInnen, Verwaltungsangehörige und andere begegnen konnten und die Konflikte austragen konnten, die dort schlummerten. Durch eine allparteiliche Moderation in der Arbeit mit verfeindeten Menschen, das Einbeziehen von Anwohner_innen, Politik, Verwaltung, Polizei und anderen „Betroffenen“, viele Gespräche in kleinen Gruppen, durch Fragen, die auf das Verstehen des Anderen zielen und vertrauensbildende Maßnahmen konnten die Konflikte ausgetragen werden und mit genügend Zeit sich langsam etwas verändern.
Später führte Charles diese Arbeit in weitere Brennpunkte, u. a. nach Tschetschenien, Ruanda, Guatemala, in die USA und Deutschland.
So entstand Ende der 80er die „Therapie Sociale“ – eine Therapie für eine „kranke“, weil gewaltvolle Gesellschaft, eine Transformation der Gewalt durch den Konflikt. Heute ist die Therapie Sociale „vielmehr eine Haltung des Moderators als eine Methode“, wie Charles meint, es gibt nicht eine der Therapie-Sociale eigene Methodik, die sich nach festem Schema überall anwenden lässt. Vielmehr geht es um Offenheit und Flexibilität mit den Bedingungen, die man in einem gesellschaftlichen Konflikt vorfindet, und um die Menschen, mit denen man arbeitet. Wir können zwar heute lernen, uns mit unseren eigenen Konflikten auseinanderzusetzen, für uns persönlich als Weiterbildung oder im Berufsalltag. Aber gesellschaftlich gibt es kaum Räume, wo politische Konflikte zwischen Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Werten konstruktiv ausgetragen und verändert werden können. Die Therapie Sociale versucht genau das.

Nachdem ich ein Jahr auf Demonstrationen gegen PEGIDA verbracht hatte, die mich zunehmend wütender auf „die anderen“ machten und mir gleichzeitig zunehmend sinnloser vorkamen, keimte in mir der Gedanke, dass eine andere Form der Auseinandersetzung mit Pegida nötig wäre. Denn ignorieren kann man sie in Dresden nicht. Wie das Leben manchmal spielt: der Begründer der Therapie Sociale, Charles Rojzman, kam zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 in Dresden, von „Dresden für alle“ in ein durch den Oberbürgermeister unterstütztes Projekt eingeladen, um mit den Menschen dieser Stadt zu arbeiten. Was für ein guter Zufall.

So groß meine Hoffnung, so hoch gleichzeitig mein Zweifel: wie bringt man Menschen dazu, sich mit denen an einen Tisch zu setzen, gegen die man schon länger als ein Jahr fast wöchentlich demonstriert, die Werte verkörpern und Gedanken äußern, von denen man sich abgestoßen fühlt? Und das in Dresden?

„Das schwarz-weiß Denken bringt immer Gewalt und Schwierigkeiten. In ganz Europa befinden wir uns heute in einer Art Bürgerkrieg in den Köpfen. Es gibt Leute, die glauben, das momentan größte Problem in unserer Gesellschaft ist die Islamisierung des Abendlands. Und es gibt Leute, die das als Hirngespinst betrachten, und die glauben, unsere Probleme sind Kapitalismus, soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Rassismus… Alle verteufeln die andere Seite. Die einen sagen: „Ihr seid Rassisten, ihr seid dumm.“ Und die anderen sagen: „Ihr seid Kollaborateure des Feindes, naive Gutmenschen und gefährlich, weil ihr die Gefahr nicht erkennt.“ Und diese beiden Seiten existieren in ganz Europa. Das ist eine wirkliche Gefahr.“

Charles ist in den Gruppen, wo ich ihn erlebt habe, ein zurückhaltender Mann, er gibt einen Rahmen für Begegnung und spielt sich nicht in den Vordergrund. Ich habe die Therapie Sociale nun mehrmals praktisch erlebt, nach mehreren Dialoggesprächen in zwei Stadtteilen in Dresden, Strehlen und Klotzsche, sowie auf einer Fortbildung für engagierte Moderator_innen, die mit der Therapie Sociale arbeiten wollen. Ich weiß aus dieser Erfahrung, wie schwierig es ist, Menschen überhaupt davon zu überzeugen, zu diesen Stadtteildialogen zu kommen. Wie sehr diese über ihren Schatten springen müssen. Mich interessiert deshalb brennend: wie finden solche Dialoge statt, wenn Menschen sich bis aufs Blut bekämpft haben? In Orten wie Ruanda, Palästina, Beslan? Wie kann man diese beiden Seiten dazu bringen, miteinander zu reden?

„Man arbeitet nicht an der Spaltung. Das Ziel ist nicht, die Spaltung zu bekämpfen. Man findet ein Thema, an dem alle ein großes Interesse haben, z.B. wie wir in Zukunft in dieser Stadt, diesem Stadtviertel zusammen leben wollen. Einmal habe ich ein längeres Projekt im Maghreb mit jüdischen und muslimischen Frauen aus einem Viertel gemacht. Es ging nicht um das Ziel, eine Versöhnung zwischen Juden und Arabern zu bringen. Das Ziel war: was können wir als Mütter tun, damit unsere Kinder eine bessere Zukunft haben? Denn beide Gruppen haben Probleme mit den Kindern, die Drogen nahmen oder Diebstähle verübten, keinen Erfolg in der Schule hatten usw. Und das Ziel war: wie können wir dieses Problem zusammen lösen? Und alles andere bestimmt die Gruppe selbst.
Hier in Dresden geht es nur darum zu beweisen: es lohnt sich, und es ist möglich mit Menschen anderer Meinung zu sprechen. Das Leiden der Leute muss aber größer sein als ihr Interesse, die Spaltung aufrechtzuerhalten. Man muss das Leiden verstehen, denn für dieses Leiden gibt es eine Motivation: es loszuwerden. Die Leute kommen, weil sie eine Veränderung ihrer gegenwärtigen Situation möchten. Alle Leute, auch wenn sie gegenseitig auf Feinde treffen in der Gruppe, müssen spüren, dass die Moderation für alle da ist: Ich bin nicht hier, um zu urteilen. Ich bin da, um einen Rahmen zu schaffen, in dem sich alle treffen können – ich bin für alle da. Die Leute müssen wirklich spüren, dass ich sie nicht verurteile. Die Leute wissen zwar, dass ich nicht neutral bin – ich habe meine eigenen Ideen, auch meine eigenen Vorurteile. Aber mein Ziel ist nicht, dass die Leute meine Ideen aufnehmen. Durch die Haltung, die du hast, dass du Sicherheit, Liebe und Wertschätzung gibst, übernehmen die anderen diese Haltung nach und nach auch.“

Gabriele Feyler, eine in Dresden sehr engagierte Frau für Migrant_innen, kennt die Therapie Sociale seit 12 Jahren und ist überzeugt davon, dass sie zum friedlichen gesellschftlichen Miteinander einen wichtigen Beitrag leisten kann. Im vergangenen Herbst stellte sie mit dem Netzwerk „Dresden für alle“ einen Antrag bei der Stadt, einen Dialogprozess mit der Methode auszuprobieren. Voller Elan lud sie Menschen in verschiedenen Stadtteilen zu den Dialogen ein. Im Stadtteil Strehlen treffen wir uns in einer Grundschule, der Raum ist eng und schnell stickig: über 40 Menschen drängeln sich, um miteinander zu sprechen. Die Gruppe ist bunt gemischt – Menschen von 20 bis 70 Jahren aus Willkommensinitiativen, Anwohner_innen, Pfarrern, Kirchgemeinden, Geschäftsleuten aus dem Stadtteil. Charles bittet die Teilnehmenden gleich am Anfang, sich entsprechend ihrer Meinung zur aktuellen Flüchtlingspolitik auf einer gedachte Linie im Raum zu verorten. Es gibt keine Verachtung dafür, wo die Menschen stehen, er erklärt es als eine Methode um zu sehen, wie unterschiedlich wir über das Thema denken und uns dann mit den „anderen“ unterhalten zu können. Auch ich merke: das ist nicht nur eine Methode, es ist seine Haltung, dass er alle in diesem Rahmen annimmt, so wie sie sind. Nach dieser Übung schließen sich andere Übungen an: Zu zweit, zu dritt oder zu viert sollen wir mit Leuten „auf der anderen Seite der Linie“ zu sprechen, z.B. über drei Ereignisse im eigenen Leben, die beeinflusst haben, dass man heute diese Meinung hat. Sehr aufschlussreich, und es bringt Erlebnisse der Biografien zutage, die ich einfach stehen lassen kann – ohne dass ich mit der Schlussfolgerung, die die andere Person aus ihren Erlebnissen zieht, einverstanden sein muss. Eine ältere Frau erzählt mir wütend, dass in der Straßenbahn ihr niemand mehr Platz macht, und dass sie auf der Straße von jungen Männern angerempelt wird. Ich erwische mich kurz, das ich zweifele, ob es stimmt, was sie sagt. Aber entscheide mich dann doch zu sagen: doch, ich kann verstehen, dass sie sich darüber aufregt, wenn ihr so etwas passiert. Und das stimmt. Dann erzähle ich ihr, dass ich noch nie so etwas erlebt oder beobachtet habe, aber das ich unzählige schöne und herzliche Begegnungen mit geflüchteten Menschen in Dresden hatte. Ich erzähle ihr von einem Mann, der ohne ein Wort zu fragen oder sagen, zwei Stunden meine Pinsel auswusch, als ich Kinder für ein Zirkusfest in einer Erstaufnahme schminkte. Ich frage die Frau, wie sie es sich erklärt, dass wir so unterschiedliche Erfahrungen machen, obwohl wir in der gleichen Stadt wohnen. Ihre Antwort: „Es sind halt nicht alle gleich.“ Stimmt! Aber am Anfang klang das ganz anders. Unsere Erfahrungen können nach diesem Gespräch nebeneinander her bestehen. Und schon das kann etwas bewirken: denn diese Frau wird ihre Erfahrungen sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit nur Menschen erzählen, die sie in ihrem Bild bestätigen, das sie von der Welt hat. Weil sie von denen keine Verachtung zu spüren bekommt. Wegen der Verachtung kann sie keine Erfahrungen mit Menschen machen, die die Welt anders sehen und erleben als sie!

Eine andere Teilnehmerin beschreibt ihre Erfahrungen in dem Stadtteildialog so: „Ich habe es als sehr hilfreich erlebt, dass das „typische“ Muster von Argument-Gegenargument-Gegengegenargument -undsoweiterundsofort durchbrochen wurde, indem Themen zum Diskurs angeboten wurden, die nicht den akuten gesellschaftlichen Konflikt (Aufnahme/Abwehr von Geflüchteten) adressierten, sondern z.B.. die Grundlagen des gesellschaftlichen Miteinanders (wie die Frage: „warum ist ein gesellschaftlicher Dialog so schwer zu führen?“). Diese und ähnliche Fragestellungen führten zu einem spannenden Austausch über Fragen, die sonst nie bzw. sehr selten unter einander völlig fremden Menschen diskutiert werden.“

„Es ist ein großer Unterschied zu anderen Ansätzen, die sagen, wie man kommunizieren soll: mit Ich-Botschaften statt Du, seine Bedürfnisse äußern, über andere nicht urteilen usw. Die Therapie Sociale arbeitet nicht so. Die Regel ist: die Leute können sein, wie sie wollen. Sie können schweigen, sie müssen nicht sprechen. Sie können eine Übung nicht mitmachen. Sie können aggressiv sein. Aber sie dürfen nichts gegen die Gesetze tun – jemanden schlagen, verletzen usw. Und irgendwann in dem Prozess werden sie von ihrem eigenen Leiden sprechen, wenn sie mehr Vertrauen haben – weil sie merken, dass sie sich nicht in eine Form passen müssen. Und dann werden sie auch über ihre eigene Verantwortung sprechen, was sie oder andere tun, und das nicht hilft, die Probleme zu lösen. Dabei werden die Leute ihre Informationen über die Realität tauschen. Und aus meiner Erfahrung heraus bringt das eine kollektive Intelligenz, und damit die Möglichkeit, die Probleme zu lösen.“

In dem Moderatorentraining, also der Therapie Sociale für diejenigen, die damit als Moderatoren arbeiten wollen, erlebe ich kurze Zeit später eine Situation, die diese Einschätzung von Charles bestätigt: Er bittet uns als Moderator – wir kennen uns da gerade zwei Stunden als Gruppe – uns im Raum umzuschauen und zu überlegen: welche Personen finden wir sympathisch, mit wem würden wir uns gern unterhalten? Und wen finden wir weniger sympathisch, auf wen würden wir in der Pause nicht unbedingt zugehen (es gibt ja viele andere Sympathische im Raum…)? Nach einer Zeit finden sich alle in kleinen Gruppen und sprechen über folgende Fragen: welches Bedürfnis erfüllt die Person, die du sympathisch findest, in dir? Und welche Angst löst die Person in dir aus, die du weniger sympathisch findest? Und es geht noch weiter: in der gesamten Gruppe fragt Charles, wer offen über seine Angst sprechen möchte, die eine „für dich unsympathische Person in dir ausgelöst hat“. Ich traue mich nach einiger Zeit und spreche die Person vor allen an – und es ist wahr, ich kann über meine Angst sprechen, die sein Verhalten bei mir auslöst: nicht in dem gesehen zu werden was ich bin und zu geben habe, weil er die Gruppe mit seinen kaum angreifbaren Aussagen und einem sehr selbstbewussten Auftreten dominiert. Es ist für mich schwierig, ihm das vor allen zu sagen – als Mensch mit Harmoniebedürfnis hätte ich ihn lieber einfach gemieden. Aber dann passieren zwei interessante Sachen: Als ich ihn damit konfrontiert habe, merke ich: meine Angst ist weg. Und ich erkenne meine eigene Gewalt ihm gegenüber und mir wird klar, dass ich ihn beurteile, ja sogar etwas verachte, obwohl ich nur ein paar Sätze von ihm kenne. Wie oft tun wir das im Leben aufgrund von wenigen Informationen über eine andere Person? Und noch etwas spannendes passiert: plötzlich will ich mit ihm reden, in Kontakt kommen, um zu sehen, ob da nicht noch viel mehr positives an ihm ist, was ich in meinem schnellen Urteil übersehen habe. Auf diesen Gedanken wäre ich nicht gekommen ohne diese Konfrontation, ohne den Konflikt. Ja, da war die Gewalt, die den Konflikt verhindert, von der Charles spricht. „Das Bewusstsein der Gewalt wird eine Beruhigung der Gewalt bringen, der Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere.“ Mein eigenes schwarz-weiß Denken wird mir schmerzlich bewusst und fängt an zu bröckeln.

„In der Ausbildung zum „Therapeut Sociale“ und auch sonst haben die Menschen das Recht zu urteilen. Aber die Menschen, die Gruppe wird dir zeigen, was du machst. Nicht ich. Ich werde dir nicht sagen: du bist gewalttätig. Du wirst es selbst erkennen im Spiegel der anderen. Ich werde nicht über dich urteilen und dir sagen, wie du sprechen sollst. Die Leute sind, wie sie sind. Und weil sie sich akzeptiert fühlen, lassen sie allmählich die Maske fallen und zeigen sich, wie sie sind. Zum Beispiel: in einer Gruppe gibt es jemanden, der kein Wort sagt, die ganze Zeit schweigt. Es gibt Methoden, die helfen, dass diese Person spricht. Nicht in der Therapie Sociale. Ich werde das als Moderator nicht ansprechen. Es gibt das Vertrauen darin, dass jemand das irgendwann aussprechen wird: „Anne, es stört mich. Du bist immer hier, du guckst, und ich glaube du urteilst über uns, und sagst dabei kein Wort. Warum?“ – Dann wirst du antworten. Und du wirst von dir selbst sprechen. Das Ziel der Arbeit ist, dass sich die Leute bewusst werden, was sie tun. Und warum sie es tun.

Im Rahmen der Stadtteildialoge im Januar und Februar in Dresden stellt sich zunehmend die Frage: Wie können wir es schaffen, dass die Methode nicht instrumentalisiert wird oder von außen falsch verstanden wird als vermeintliche Bühne für Rechtsextreme? Denn so lautet die Kritik, die in Dresden in diesem Winter 2016 von einigen Seiten immer schärfer wird. Es gibt von verschiedenen Akteuren in der Stadt Versuche, die Therapie-Sociale-Dialoge zu beenden. Zwei Vertreter einer Willkommensinitiative wollen den Dialog in diesen heißen Zeiten verhindern, auch weil sie der anderen Seite absprechen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Die Universität sagt einen gebuchten Raum für einen Stadtteil-Dialog ab. Der Netzwerkrat von Dresden für alle, Träger des Projekts, distanziert sich öffentlich von dem Projekt, ohne jemals an den Stadtteildialogen teilgenommen zu haben. Der Vorwurf, der alle eint: Dialoge mit politischen Wortführern, die Hetze verbreiten, oder diese verharmlosen, dürfen nicht geführt werden. Denn zu den Therapie-Sociale-Dialogen kommen auch Menschen, die von den anderen als Hetzer eingestuft werden, wie ein Pegida-Mitbegründer, der bei der Spaltung der Bewegung im Winter 2014/15 diese verließ. Ich sprach mit ihm in einer kleinen Gruppe, etwas skeptisch, neben mir noch zwei weitere Aktive aus Flüchtlings-Unterstützer-Kreisen: aber ja, es war durchaus möglich mit diesem Mann zu sprechen, sich gegenseitig zuzuhören, trotz unserer Unterschiede, und ihm die Konsequenzen seines Denkens vor Augen zu führen, z.B. zu seiner vermeintlich harmlosen Argumentation, „europäische Grenzen durch Militär sichern“. Das Gespräch macht mir sogar Mut, dass hier noch nicht alles verloren ist, wenn wir es schaffen, miteinander zu sprechen und zuzuhören. Auch wenn das Kraft kostet. Das Einbinden von Menschen, die sich gesellschaftlich abgestempelt und nicht gehört fühlen, kann eine Chance sein. Wie ein Teilnehmer an dem Dialog im Stadtteil Strehlen danach meinte: „Viele Menschen fühlen sich nicht gehört, gehen demonstrieren und wählen immer rechter. Wenn diese Menschen ernsthaft und wertschätzend gehört werden und sich einbringen können, könnten dieser Rechtsruck und die große Unzufriedenheit verhindert oder verringert werden, die Menschen könnten ihre Energie im Sinne der Stadt einbringen und nicht, um grundsätzlich gegen Alles zu demonstrieren.“ Vielleicht liegt aber genau hier die Krux: Die Therapie Sociale arbeitet mit Menschen, die ein Leiden haben, nicht mit den Repräsentanten einer Ideologie. Es sei denn, das Leiden dieser Menschen ist noch größer als ihr Wunsch, eine Ideologie zu repräsentieren – dann kann die Therapie Sociale funktionieren. Das Leiden bringt große Motivation mit sich: es abzulegen, zu verändern, oder wenigstens etwas zu mildern. Wenn jemand den Anderen aber diese minimale Bereitschaft zur Selbstveränderung abspricht und im Alltag wenig soziale Nähe zu den Andersdenkenden hat, dann wird das Leiden durch die Teilnahme an einem solchen Dialog nur noch größer. Und dann werden diese Menschen den Dialog vermutlich auch ablehnen.
Der dritte Vorwurf gegen den Dialog lautet: der Konflikt, die Auseinandersetzung mit denen, stiehlt uns Zeit und Kraft, die wir für unser Engagement für Flüchtlinge brauchen. Ich finde den berechtigt. Aber das kratzt an den Säulen unseres Systems, an der Aufteilung von Lohn- und Erwerbsarbeit und Ehrenamt. In anderen Therapie Sociale Projekten, z.B. 2004 in Germersheim, gab es daher bereits die Praxis, dass einige Menschen freigestellt und auch bezahlt werden, um über eine längere Zeit an einem Dialog teilzunehmen. Das wertet diese Form von Arbeit auf im Sinne eines sehr notwendigen Dienstes für die Gesellschaft – so notwendig wie die Arbeit für und mit Geflüchteten. Denn eins sollte mittlerweile allen klar sein: wir haben es nicht nur mit der Integration von Geflüchteten in unsere Gesellschaft zu tun. Eine weitere Herausforderung in dieser sich verändernden und zunehmend vielfältigen Gesellschaft ist die Integration der Menschen, die sich von Diversität und Veränderung bedroht fühlen!

  • Die Mehrheit der Dresdner_innen, die zu den Therapie-Sociale-Dialogen kamen, sind offen und stehen den Geflüchteten positiv gegenüber, einige haben selbst Migrationshintergrund. Es sind Menschen, die versuchen wollen, die Kritik der anderen zu verstehen und die Auseinandersetzung im direkten Kontakt suchen. Es gibt immer mehr Menschen, die zu den Dialogen kommen – in Strehlen beim dritten Treffen im Februar über 70 Leute. Fast alle sind hoffnungsvoll und begeistert von den Gesprächen. Einige Rückmeldungen aus Fragebögen, die im Nachhinein an die Teilnehmenden verteilt wurden:
  • „Positiv war in jedem Fall, dass wir (jedenfalls in unserer Kleingruppe) wirklich versucht haben, sachlich miteinander zu reden, uns in die Augen geblickt haben und dabei die Menschen mit ihren Sorgen, nicht den „Mob“ auf dem Theaterplatz gesehen haben. Umgekehrt haben die „besorgten Bürger“ vielleicht über das eine oder andere nachgedacht, z.B. ob Flüchtlinge wirklich eine derartige Bedrohung für uns sind. Das ist schonmal gar nicht so wenig.“
  • „Der weit überwiegende Teil ist m.E. Nach mit dem ehrlichen Wunsch gekommen, die Polarisierung der Meinungen, wie sie z.T. Durch die Medien propagiert werden, aufzubrechen. Teilnehmer, die ohne eine gute Begründung für ihre Meinung nur ein Statement abgeben wollten, hatten hier keinen guten Platz. Für mich eine gute Möglichkeit, mich von anderen Blickrichtungen inspirieren zu lassen, darüber nachzudenken und Mitbürgern guten Willens meine Sicht auf die Dinge zu erläutern.“ (von jemandem, der sich durch Geflüchtete und der aktuellen Lage in Dresden eher bedroht sieht)
  • „Spannende Methoden mit der Wirkung, dass Vertrauen und Offenheit entsteht und Auseinandersetzung möglich ist ohne Diffamierungen. Auch mit 3 Pegida-Anhängern waren in den Pausen und im Nachgang der Veranstaltung gute Gespräche möglich.“ (von jemandem, der sich durch Geflüchtete in Dresden bereichert fühlt)
  • „Sich gegenseitig ernst nehmen und gehört werden kann Annäherung schaffen, durch den persönlichen Kontakt wird aus dem anonymen Gegenüber ein Mensch, eine Geschichte und ein greifbares Gegenüber – die Angst voreinander nimmt ab. An gezielten Themen kann gemeinsam überlegt werden, wie man die Zukunft gestalten kann, man kann sich als Akteur erleben und nicht mehr ohnmächtig.“

Das Pilotprojekt, Bürger_innen mit der Methode Therapie Sociale in dem Konflikt zu begleiten, endete in Dresden im Februar. Ob es weitergehen kann, ist momentan unklar. Es fehlt an Geld, auch an Moderator_innen, die mit einer verständnisfördernden Methode wie der Therapie Sociale in einem gesellschaftlichen Konflikt arbeiten können und sich das auch trauen, immer in der Gefahr, dafür öffentlich angeprangert zu werden. Gleichzeitig gibt ein großes Interesse nicht nur aus dem Kreis der Stadtteildialoge, sondern aus dem Kreis der Moderatorenfortbildungen und weiterer aktiver Vereine und Initiativen, dass es in Dresden weitergeht. Das wir eine andere Kommunikations- und Konfliktkultur brauchen, die auch politisch unterstützt werden muss. Viele fordern, dass die Dialoge auch mit mehr Bürgerbeteiligung verbunden werden, so wie es in der Therapie Sociale auch vorgesehen ist – sonst wird die Chance für Veränderung und gesellschaftliches Einbringen vertan.
Es gibt noch ein paar andere Dialoge, sie sind selten, und sie sind groß. Seit diesem Winter gibt es Bürgerdialoge mit 500 Beteiligten in der Kreuzkirche. Mit 500 Menschen einen Dialog zu führen ist schwierig. Er mag Raum bieten für einige Antworten von Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung. Aber die wichtigen Gespräche der Bürger_innen miteinander finden hier keinen Raum. Es braucht mehr Räume für Begegnung zwischen einzelnen Menschen, keine Bühnen für Statements. Raum für Streitgespräche. Für Austausch. Für Verstehen. Raum dafür, mit anderen ins Gespräch zu kommen und dort meine Werte und meine Meinung zu verteidigen. Die Realität zu erkennen. Raum zu verstehen, dass die anderen nicht nur „dumm“, „rassistisch“ oder „böse“ sind. „Wenn die Leute nur verstehen, dass die von der anderen Seite nicht nur dumme oder nicht nur böse Leute sind, ist es für mich genug, es ist ein Anfang. Die Leute haben Phantasmen, Vorurteile. Aber wenn du verstehst, dass die andere Person nicht so dumm ist, wie du glaubst, dann hast du weniger Wut. Dann merkst du: wir haben zwar eine andere Meinung, aber wir können vielleicht etwas zusammen tun. Ich glaube nicht mit einer Allmachtsvorstellung daran, ich könnte die Leute verändern. Es ging nicht darum, dass jemand von Pegida jetzt entscheidet, Flüchtlingen zu helfen. Das ist kein Ziel meiner Arbeit. Das Ziel der Therapie Sociale ist, dass sich die Leute über ihre verrückten Ideen über sich selbst, die anderen, die Welt bewusst werden. Das sie die Realität sehen. Die Leute lernen, auch den anderen Leuten zuzuhören, die eine andere Meinung haben. Denn sie haben auch einen Teil der Realität.“ (Charles)
Wenn ich, wenn wir nicht mit den Andersdenkenden sprechen, ihre Ängste anhören, auf ihre Argumente mit Gegenargumenten antworten, ihre Gewalt aufzeigen und deren mögliche Konsequenzen – wer dann? Ich muss an einen Satz aus der „Zeit“ vom Januar denken: “Wenn es nicht gelingt, die Gegner der aktuellen Flüchtlingspolitik in eine Fernsehdebatte zu integrieren – wie soll es dann gelingen, eine Million Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren?“ Wenn wir es nicht tun – wer dann?? In dem Konflikt, so wie Charles Rojzman ihn sieht, kann ich wütend und nicht einverstanden mit meinem Gegenüber sein und gegen die Werte der anderen Person kämpfen – aber ich verteufele die anderen nicht. Das Ziel ist dabei nicht Harmonie oder zu einer Meinung zu kommen, denn Demokratie lebt vom Konflikt. Aber ich kann mich mit jemandem unterhalten, der nicht meine Meinung hat, ohne ihn zu verachten, was nicht heißt, dass ich seine Meinung oder ihn selbst rechtfertige. Ich kann einen Konflikt haben, ohne Gewalt. Das geht aber nur, wenn ich keine Angst, Stress oder Ohnmacht – und wenn ich keine Verachtung gegenüber anderen Menschen empfinde. Es ist an der Zeit, daran zu arbeiten – an uns allen. Das die sogenannte „Flüchtlingskrise“ das aufzeigt, gibt Mut, mich weiter zu engagieren.

Anne Wiebelitz, hat das Pilotprojekt Therapie Sociale in Dresden dokumentiert und arbeitet als Trainerin für Konflikttransformation und als Wildnispädagogin.

Weitere Literatur:

  • http://www.friedenskooperative.de/ff/ff06/4-65.htm Artikel über das Therapie-Sociale Dialogprojekt in Germersheim 2004
  • http://www.institut-charlesrojzman.com/fr (bislang nur auf französisch)